Eigensinn und Frauen-Zimmer

Von Frauen – für Frauen
1978 wurde das Frauentherapiezentrum München gegründet und ist bis heute eine der wichtigsten Anlaufstellen für Frauen in Krisensituationen.
Von Anfang an war Parteilichkeit für die Frauen, die hier Hilfe suchen, Programm. Sucht, Ängste, Depressionen und Psychosen werden nicht als Krankheiten abgestempelt, sondern als eine meist sinnvolle Antwort auf die Erfahrung von Verlassenheit oder auch sexueller Gewalt erkannt.
So kann die zeitweilige Vorstellung, eine andere Person zu sein, etwa eine unberührbare Heilige, einem Mädchen zunächst helfen, sexuelle Gewalt zu überleben.
Verständnis statt Schuldzuweisung erlaubt den Frauen im ersten Schritt, sich scheinbar verrückte und oft auch destruktive Verhaltensweisen zuzugestehen.
Die acht festen und fünf freien Mitarbeiterinnen beziehen in ihre Arbeit die gesellschaftliche Situation der Frauen mit ein, in der Frauen immer noch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und die Entwicklung eines starken Selbstwertgefühls erschwert wird.
Die Veränderung der inneren Einstellung kann im Frauentherapiezentrum in einem männerfreien Schutzraum erfolgen. Hier geknüpfte Kontakte und Gespräche helfen, sich aus der Isolation zu befreien und real belastende Lebensumstände zu verändern, z.B. eine Trennung zu wagen.
Das Zentrum bietet psychosoziale Beratung, z.B. bei Problemen mit der/dem PartnerIn, Eßstörungen oder Depressionen.
Frauen mit Psychiatrieerfahrung und in akuten psychischen Krisen suchen meist eine umfassendere Begleitung. Aus dieser Erkenntnis kam die Idee für eine Tagesstätte, die einzige nur für Frauen: EigenSinn. Bis zu sechs Tage die Woche können sich Frauen hier aufhalten, gemeinsam kochen, essen, in der Werkstatt tischlern oder nähen oder sich einfach ausruhen. Die eigenen, oft verschütteten, Potentiale werden für jede Besucherin spürbar. Nicht die Krankheit oder vermeintliche Defizite stehen im Vordergrund sondern die Suche nach Ausdrucksformen: Beim Arbeiten mit Ton oder Farben, in einer eigenen Zeitung – oder in Kontakt mit anderen psychiatrieerfahrenen Frauen. Gerade in akuten Krisen oder in der Zeit zwischen Klinik und Alltag können die Tage in EigenSinn einen wichtigen Halt geben.
Zwei Psychologinnen und eine Ergotherapeutin stehen zur Seite. Die eigenen Sinne wieder spüren und Eigensinn entwickeln kann so in kleinen Schritten gewagt werden.

Arbeit und Ausbildung
EigenSinn hat seine Türen im September 1994 geöffnet. Im Dezember des gleichen Jahres hat ein weiteres Projekt des Frauentherapiezentrums begonnen: Fraueninfothek und Büroservice München. Zehn Frauen werden in einem zweijährigen Lehrgang – meist nach längerer Krankheit- auf das Arbeitsleben vorbereitet. Die Teilnehmerinnen haben schwere psychische, psychiatrische Krisen und/oder eine Suchtmittelabhängigkeit überwunden.
Im Büroservice lernen sie den Umgang mit Schreibmaschine und Computer, Adressenverwaltung und weitere Sekretariatstätigkeiten. Das Gelernte gilt es gleich umzusetzen, denn der Büroservice bietet seine Dienste professionell an, die Kunden sind diverse Firmen und Projekte. Das gleiche gilt für die Fraueninfothek. Hier wurde mit einer eigenen Datenbank ein Archiv aufgestellt, um Münchnerinnen und Touristinnen Zugang zu frauenrelevanten Informationen über die Stadt zu geben. Seit einem Jahr kann die Einrichtung persönlich und per Telefon genutzt werden.
Die Teilnehmerinnen des ersten Lehrganges (bis Ende 1996) waren zwischen 25 und 63 Jahre alt. Ihre Erfahrungen in dieser individuell auf jede Teilnehmerin zugeschnittene Qualifizierung sind durchweg positiv. Eine Frau befindet sich inzwischen in einer regulären Umschulung, ist sich aber sicher, diese erst nach der Zeit im Büroservice durchstehen zu können, denn hier hat sie lernen und arbeiten neu einübern und trainieren können.
Arbeit fordert Ausdauer, etwas, das den meisten Teilnehmerinnen in Sucht oder stationärem Klinikaufenthalt verloren gegangen ist. Mit gutem Grund ist daher eine Absolventin stolz, sich bei den Belastungen in den letzten zwei Jahren nicht in Psychosen geflüchtet und Arbeit als stabilisierend erlebt zu haben. Ein Erfolg, den Qualifizierungen, die allein auf messbare Leistungen setzen, nicht würdigen könnten.

Lebenspraxis und Alltag
Frauen, die mehrere Jahre auf Langzeitstationen in der Psychiatrie leben oder die sich häufig in psychiatrisch-stationäre Behandlung begeben müssen, verlieren meist die Fähigkeit, sich ein eigenständiges Alltagsleben zu organisieren. Dieser Verlust an Eigenständigkeit ist kein frauenspezifisches Phänomen – doch fehlt es Frauen mit psychischen Erkrankungen häufiger als Männern an Angehörigen, die sie unterstützen. Deshalb verweilen immer noch viele über ihre akute Krise hinaus in den Kliniken.
1989 gründeteten deshalb Frauen in Göttingen den Verein Frauen-Zimmer e.V.. Die Gründerinnen arbeiteten bereits vorher als Ärztinnen, Therapeutinnen und Pädagoginnen auf einer psychiatrischen Station, in der alle Patientinnen mehrere Jahre bis Jahrzehnte blieben.
Frauen außerhalb der Klinik ein Leben zu ermöglichen, in dem sie langsam wieder lernen können, sich selbst zu versorgen, ihre Umgebung zu gestalten und zu erhalten, sowie Ängste und Krisen zu begegnen, ist bis heute Ziel des Vereins geblieben.
Die fünf Teamfrauen von Frauen-Zimmer verstehen ihre Entscheidung für ein reines Frauenprojekt als eine politische Antwort auf die unterschiedlichen Lebensrealitäten von Frauen und Männern, Patientinnen und Patienten.
Zur Zeit werden zwanzig Frauen betreut, die Hälfte wohnt alleine, die anderen in Wohngruppen zu zweit oder dritt.
Verschiedene stationäre und teilstationäre Einrichtungen der Umgebung verweisen Frauen auf den Verein. In einem Erstgespräch werden die Krankheitsgeschichte und das soziale Umfeld der Frau erfragt und ihre Erwartung an die Betreuung.
Entscheiden sich beide Seiten für die Betreuung, muß die Frau einen „Antrag auf Eingliederung in die Gesellschaft“ beim Sozialamt stellen.
Ist dieser genehmigt – und damit die Finanzierung der Betreuung gesichert – kann die Frau in eine vom Verein angemietete Wohnung einziehen.
Beratung und Hilfe bei der Wohnungseinrichtung sowie ein lebenspraktisches Training stehen zu Beginn im Vordergrund. Jede Frau hat über die gesamte Zeit, die sie bei Frauen-Zimmer ist, eine persönliche Betreuerin. Manche fühlen sich schon nach zwei Jahren wieder gestärkt für ein Leben ohne diese Hilfe, andere, vor allem Frauen, die bis zu zwanzig Jahren in der Psychiatrie gelebt haben, sind seit sieben Jahren, also von Anfang an, dabei.
Zum Aufbau sozialer Kontakte bietet der Verein Gruppen an, kreative Angebote wie Theater und Malen helfen dabei, miteinander Kontakt aufzunehmen.
Stephanie Rimmert, Pädagogin und Therapeutin bei Frauen-Zimmer: „Wir achten darauf, was die Frauen nach einem jahrelangen Aufenthalt in der Psychiatrie noch können. Z.B. im Haushalt oder beim Kochen. Wenn Patientinnen jahrelang von der Klinik versorgt werden und dann gesagt wird, daß sie gar nicht mehr kochen können, stimmt dies meist nicht. Plötzlich stellen wir fest, daß sie noch ganz viele Ideen und Rezepte im Kopf haben. Wenn wir dann gemeinsam kochen, können sie es noch, auch wenn das letzte mal kochen schon dreißig Jahre her ist. Das finden wir immer wieder faszinierend, was bei den Frauen noch alles da ist.“
Ungefähr die Hälfte arbeitet tagsüber in Werkstätten für Behinderte, manchmal schafft es eine auch, reguläre Arbeit zu finden.
Frauen-Zimmer e.V. ist nach sieben Jahren immer noch bundesweit das einzige Projekt, das sich die Integration psychiatrieerfahrener Frauen zum Ziel gesetzt hat.

Neue Therapiekonzepte
Einen Schritt vorher, in der stationären Psychiatrie, setzt eine Abteilung des Landeskrankenhauses Göttingen an. Auf der Station 13, geleitet von Prof. Dr. Ulrich Sachsse, leben seit Juni 1996 zwölf bis sechzehn Patientinnen, die sich immer wieder selbst verletzen. Ein Symptom, unter dem fast ausschließlich Frauen leiden und das meist auf schwere traumatische Erlebnisse in der Kindheit zurückzuführen ist. Vor allem sexuelle Gewalt versuchen Mädchen mit einer Abspaltung ihrer Empfindungen auszuhalten um nicht „verrückt“ zu werden. Diese, zunächst sinnvolle Reaktion verselbstständigt sich und führt mitunter dazu, daß sich auch erwachsene Frauen immer wieder schwere Verletzungen mit Messern oder anderen Gegenständen zuführen. Sie haben ihre Schmerzempfindung abgespalten und versuchen doch, ihren eigenen Körper wieder zu spüren.
Die Patientinnen leben in der Spezialabteilung vier bis sechs Monate. Psychoanalytische Traumaforschung wird hier mit Erkenntnissen feministischer Psychologinnen verbunden.
Den Frauen soll Hilfestellung gegeben werden, sich wieder spüren zu lernen. Gestaltungstherapie, Musizieren, Aromatherapie und Sport helfen dabei. Traumaarbeit findet ausschließlich in Einzeltherapien statt, damit sich die Frauen nicht gegenseitig belasten.
Selbstverletzungen während des Aufenthaltes werden verstanden und akzeptiert. Auf dieser Basis werden die Patientinnen in ihren Bemühungen, auf dieses Symptom zu verzichten, bestärkt. Die Station ist ein Schutzraum, TäterInnen, auch wenn sie zur Familie gehören, haben hier keinen Zugang. Neben einem Oberarzt und einem Pfleger ist das Personal weiblich, auf Wunsch werden die Patientinnen ausschließlich von Frauen behandelt.
Die Patientinnen kommen aus ganz Deutschland, nach zwei Probewochen müssen sie sich zunächst zuhause überlegen, ob sie in der Station bis zu einem halben Jahr bleiben wollen. 80% bejahen diese Frage. Ziel ist es, sich nach dieser Zeit an alles erinnern zu können, was an traumatischen Erlebnissen passiert ist, ohne dabei Symptome auszubilden. Dann werden die Patientinnen entlassen und ambulant psychotherapeutisch betreut. Das Konzept, Frauen mit frauenspezifischen Symptomen und Ursachen aus dem „therapeutischen Gemischtwarenladen“ herauszunehmen, geht für Prof. Dr. Sachsse auf. Die Entlassenen können viel schneller und symptomfreier ihr alltägliches Leben aufnehmen, als er das aus jahrelanger Erfahrung mit sich-selbst-verletztenden Frauen auf gemischten Stationen kennt. Auf der Warteliste stehen zur Zeit 60 Frauen.
Obwohl der Bedarf an frauenspezifischen und feministisch ausgerichteten Angeboten in und um die Psychiatrie offensichtlich noch sehr viel größer ist als das Angebot, sind die hier dargestellten Beispiele bisher Ausnahmen. Allerdings welche, die Mut machen.

veröffentlicht in: EMMA 1996