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Juan Melendez wurde bei der Obsternte verhaftet und unschuldig zum Tode verurteilt
Der Saal ist schon überfüllt und schnell holen Helfer noch Stühle aus den Nebenräumen herbei. Juan Melendez muss mit dem Beginn seines Vortrages warten. Er geht mit schnellen Schritten hin und her, ist unruhig. Ungeduldig. „Warten kann ich nicht, das macht mich verrückt“, sagt er.
Warten erinnert ihn an seine Zeit im Gefängnis: „Wenn man einen Termin beim Arzt hatte oder mit seinem Anwalt, um 11 Uhr, wurde man um 7 Uhr aus der Zelle geholt, in einen Käfig gesperrt, mit Handschellen und Fußfesseln. Dann wurde man sitzen gelassen, wusste nie, wie lange es wirklich dauern würde. “
Fast 18 Jahre war Juan Melendez inhaftiert und seine Unruhe wie seine Albträume und seine Orientierungslosigkeit – „immer verliere ich Dinge und wenn ich aus dem Bad trete weiß ich manchmal nicht mehr wo Schlafzimmer und Küche sind“ – sind Erfahrungen, die er mit vielen Langzeitinhaftierten nach der Entlassung teilt. Zudem wird Juan Melendez in seinen Albträumen zu seiner Hinrichtung abgeholt, denn er war im Todestrakt von Florida. Unschuldig zum Tode verurteilt verbrachte er dort fast 18 Jahre bis die Anklagen gegen ihn fallen gelassen wurden.
Heute erzählt er seine Geschichte auf Vorträgen in den USA und Europa. Seine Mission ist der Kampf um die Abschaffung der Todesstrafe.
Er ist der 99. Mensch, der in den USA wegen erwiesener Unschuld aus dem Todestrakt entlassen wurde seit der Oberste Gericht des Landes im Jahre 1976 die Todesstrafe wieder als verfassungsgemäß zu ließ. In 38 der 50 Bundesstaaten steht sie heute im Gesetz und die Zahl der wegen Unschuld entlassenen ist bis heute auf 123 angestiegen.
123 Geschichten. Die von Juan Melendez beginnt am 2. Mai 1984. Der Erntehelfer, geboren in New York und aufgewachsen in Puerto Rico, saß mit Kollegen unter einem Apfelbaum auf einer Farm in Pennsylvania als eine Schar FBI-Agenten auftauchte und allen befahl sich auf den Boden zu legen. Sie verhafteten ihn wegen Mordes und schwerem Raubüberfalls, das aber verstand Melendez nicht – er sprach nur spanisch. Da er aber wusste, dass er unschuldig war gab er die Einwilligung zur Auslieferung nach Florida wo er zuvor auf Farmen gearbeitet hatte und wo das Verbrechen passiert war.
Dort bekam er einen Pflichtverteidiger. „Der klopfte mir immer auf die Schulter und meinte, dass alles gut werde. Natürlich, dachte ich, ich bin ja unschuldig.“ Der Prozess gegen ihn begann. Montags und dienstags wurde die Jury ausgewählt, elf Weiße und ein Afro-Amerikaner sollten über ihn, den Hispanic, richten. Mittwoch waren die Anklageverlesung und die Beweisführung. Der Mord an Delbert Baker, dem weißen Besitzer eines Kosmetiksalons war monatelang von der Polizei verfolgt worden ohne dass ein Verdächtiger präsentiert wurde. Die Familie des Opfers machte Druck. Dies nutzte ein Polizeiinformant, dem selbst ein Verfahren wegen geringerer Vergehen drohte. Er sagte aus, Juan Melendez habe ihm gestanden, dass er den Mord während eines Überfalles auf den Kosmetiksalon begangen habe. Er kannte Melendez und war persönlich nicht gut auf ihn zu sprechen.
Ein zweiter Zeuge sagte, er habe Melendez in die Nähe des Tatortes gebracht. Später sagte dieser Mann, ein Freund von Melendez, er sei unter Druck gesetzt worden von der Polizei, diese habe ihm gedroht dass er selbst auf dem elektrischen Stuhl landen könne.
Es gab keine Indizien, keine Beute, kein gestohlenes Gut.
Zwei Alibizeugen sagten für Melendez aus. Zwei Schwarze. Die Jury erfuhr nicht, dass die Zeugen der Staatsanwaltschaft für ihre Aussagen Straferlass in eigener Sache erhielten. Donnerstag sprach die Jury den Schuldspruch, Freitag das Todesurteil. „Das hat aber lange gedauert“ sagte der Richter.
Im Todestrakt erwarteten Juan Melendez eine schmutzige kalte Einzelzelle in der er mit den Kakerlaken um sein Frühstück stritt – und wenige Tage nach seiner Ankunft die Hinrichtung eines Mithäflings. Seine Angst schlug um in Hass und Wut, er beschimpfte die Wärter, er werde sich nicht friedlich zu seiner Ermordung führen lassen. Es waren seine Mitgefangenen, die ihn zur Vernunft riefen. „Diese Mörder und Verabscheuten waren es, die mir halfen. Sie waren es, die mir Englisch beibrachten. Ohne sie hätte ich den Todestrakt nicht überlebt.“ Trotz dieser Hilfe und seiner Mutter die immer zu ihm hielt rutscht er immer wieder in tiefe Depressionen und Selbstmordgedanken.
„Es ist kaum möglich dort nicht verrückt zu werden – und viele werden es. Spiritueller Halt hilft, egal ob du an Allah, Buddha oder Jesus glaubst. Ich erinnerte mich meiner katholischen Wurzeln.“
1988 übernahmen Anwälte eines Vereins, der mittellose zum Tode Verurteilte unterstützt, seinen Fall. Es dauerte noch einmal 14 Jahre mühseliger Ermittlungen und mehrerer verlorener Berufungen, bis der Durchbruch kam. „Ein Wunder“, davon ist Juan Melendez überzeugt: „Mein ehemaliger Pflichtverteidiger war Richter im gleichen Bezirk geworden.“ Da er nicht über einen Fall richten konnte an dem er einmal als Verteidiger gearbeitet hatte wurde der Fall verlegt und kam so auf den Tisch von Richterin Barbara Fleischer.
Parallel geschah ein weiteres „Wunder“: der ehemalige Verteidiger erinnerte sich an einen Karton, in dem er noch alte Unterlagen zu dem Fall hatte und überließ diesen den neuen Verteidigern. Darin fanden sie eine Audiocassette. Darauf befand sich das im Polizeiverhör aufgenommene Geständnis von Vernon James, er habe Delbert Baker umgebracht. Aufgenommen einen Monat vor Beginn des Prozesses gegen Juan Melendez.
Als ihr dieses Band vorgelegt wurde, beantragte Richterin Fleischer die Offenlegung der Akten der Staatsanwaltschaft zum Fall Melendez. Nicht weniger als 16 Dokumente bestätigten das Geständnis von Vernon James.
In einer Anhörung kurz darauf bestätigten u.a. die Frau und Schwester von James sowie ein ehemaliger Ermittler des Staatsanwaltes die Schuld des inzwischen Verstorbenen.
Auch der Staatsanwalt hatte das Geständnis von Vernon James Wochen vor dem Prozess gegen Melendez erhalten. Zudem war ihm ein mögliches Motiv, Eifersucht in einer Affäre zwischen Täter und Opfer, bekannt. Vernon James selbst sagte aus, er habe Delbert Baker getötet bei dem Versuch, sich vor dessen sexueller Zudringlichkeit zu erwehren.
Allerdings erfuhr der Staatsanwalt dies erst, nachdem er schon vor die Presse getreten war und Juan Melendez als den erwiesen wahren Mörder präsentiert hatte. Und schließlich hatte Juan Melendez schon einmal sieben Jahre im Gefängnis gesessen, wegen des bewaffneten Raubüberfalles auf eine Tankstelle und war auch in Sachen Schlägereien kein unbeschriebenes Blatt bei der Polizei. Zwar steht darauf nicht die Todesstrafe, aber das Bild, welches sich der Staatsanwalt möglicherweise von dem Wirtschaftsmigranten machte der ja nicht einmal Englisch sprach, mag ihm sein Vorgehen als irgendwie legitim erschienen haben lassen. Schließlich galt es nicht zuletzt, die Chancen für seine eigene Wiederwahl im Auge zu behalten.
Nachdem Richterin Fleischer das Urteil gegen Melendez in einer über 70 Seiten starken Begründung aufhob und eindeutig feststellte, dass alle Beweise darauf schließen ließen, dass ein Unschuldiger in Floridas Todestrakt saß, ließ es die Staatsanwaltschaft nicht mehr auf einen neuen Prozess ankommen und alle Anklagepunkte wurden fallen gelassen.
Es dauerte noch einige Wochen, dann wurde Juan Melendez entlassen, 17 Jahre, acht Monate und einen Tag nach seiner Verurteilung. Er verließ den Todestrakt unter dem Applaus seiner Mitgefangenen und mit Tränen in den Augen. Während seiner Zeit dort hatte er 51 Hinrichtungen erlebt und bis heute hat Florida weitere 9 Menschen exekutiert, nur ist der elektrische Stuhl der Giftspritze gewichen.
„Der Staat Florida hat mir viele Freunde genommen.“ Die Todesstrafe ist für ihn barbarisch und unrecht – für jeden Verurteilten.
Bei seiner Entlassung bekam Juan Melendez 100 Dollar und etwas zum Anziehen – so wie jeder Haftentlassene in Florida, kein Schadensersatz, keine Entschuldigung von seiten der Justiz oder des Gouverneurs, dessen Bruder Präsident ist.
Geholfen haben Melendez Menschenrechtsorganisationen, so dass er zu seiner Mutter in Puerto Rico fliegen konnte wo er heute noch lebt. Er hat eine Organisation gegründet, voices united for justice, die neben der Aufklärungsarbeit gegen die Todesstrafe v.a. Programme mit Jugendlichen fördert, die drohen, in die Kriminalität abzurutschen. Mit ihm als Hauptredner, „denn so war ich ja auch in meiner Jugend, arm, ohne Perspektive, die Schule geschmissen mit 16.“
Schließlich unterstützt sein Verein andere, die nach ihm aus dem Todestrakt wegen erwiesener Unschuld entlassen wurden. Denn er weiß, dass dies oft kein Happy-End bedeutet, nicht wenige Entlassene verfallen Alkohol und Drogen, manche landen wieder im Gefängnis und einige haben den Todestrakt überlebt und verzweifeln danach dennoch so am Leben dass sie sich umbringen. „Die Albträume vergehen nie, aber du kannst lernen, damit zu leben.“
veröffentlicht in Der Tagesspiegel 13.2.2006