Zu arm für einen guten Verteidiger

Todeskanditatinnen in den USA

Punkt neun Uhr öffnet sich die Pforte des kleinen Steinhauses. Rechts und links zieht sich ein hoher Zaun um das alte Gemäuer. Nur einzeln dürfen die Wartenden eintreten. Namen eintragen, Hosentaschen entleeren, Durchgang durch den Detektor. Aus einer Tür tritt ein Vollzugsbeamter, per Knopfdruck öffnet und schließt er mehrere Türen. Dann ein paar Schritte über den Hof, in einen Raum mit dem Charme einer Turnhalle. Viele Kinder jeden Alters sind da, begleitet von Verwandten oder Freunden. Sie sind gekommen, um ihre Mütter zu sehen. Zu Besuch in einem Frauengefängnis im Bundesstaat Pennsylvania.

Durch eine Tür treten die Gefangenen aus dem Inneren des Gebäudes auf die gut bewachte Empore und von dort in den Raum. Alle tragen graue Besuchskittel. Alle, bis auf Carol King, die ich besuche. Sie wird in Handschellen hereingeführt, in einem rosafarbenen Kittel, eskortiert von zwei Beamten. Ich sitze zu diesem Zeitpunkt schon eingeschlossen in einem von drei Käfigen am Rande der Halle. Carol wird in denselben Käfig eingeschlossen. Getrennt sind wir durch ein Gitter – Prinzip Beichtstuhl. Als sie sitzt, streckt sie die Hände durch einen Schlitz in der Tür. Ein Beamter nimmt ihr die Handschellen ab. Köperkontakt verboten – „Non-contact visit » in der Amtsprache. Den haben auch „Troublemaker“, Gefangene, deren Drogentest zu oft positiv war. Doch Carol ist keine von ihnen. Ihr rosa Kittel signalisiert: Todestrakt. Sie ist eine, die in den Augen von Staat und Justiz keine Existenzberechtigung mehr hat, keinen Menschen mehr berühren darf außer den Vollzugsbeamten und dem Seelsorger.
Seit zwei Jahren stehe ich mit Carol in Briefkontakt und habe nun die Erlaubnis zu einem „special visit“, zwei Tage hintereinander je vier Stunden, da ich so weit aus Deutschland angereist bin. Auch Carols Kinder und ihre Eltern, bei denen ihre drei Kinder seit ihrer Verurteilung leben, hätten Anspruch auf einen solchen Spezialbesuch. Doch die Familie ist arm und lebt weit weg, kann sich die Reise nicht leisten. So hat die Gefangene ihre Kinder das letzte Mal vor einem Jahr gesehen. „Als ich verhaftet wurde, war ich schwanger. Meinen Sohn, der jetzt acht Jahre alt ist, durfte ich nur zweimal in den Arm nehmen. Ich versuche, ihm eine gute Mutter zu sein, den Kontakt nicht zu verlieren. Aber ich muss meine Kinder auch schützen, bitte nenn ihre Namen nicht. Es wäre ihr Untergang, wenn herauskäme, dass ihre Mutter im Todestrakt sitzt.“ Carol sagt, ihr Freund habe damals auf die Angestellte des Ladens schoss, den sie überfallen hatten, sie sei schon draußen im Auto gewesen. Die beiden waren auf der Flucht. Ihr Freund hatte seine Bewährung durch einen neuen Raub verspielt. Beide waren drogenabhängig. Er verweigerte in ihrem Prozess die Aussage, weil sein eigenes Verfahren noch schwebte. „Meine Pflichtverteidigerin hat geweint, als das Urteil fiel. Sie wollte den Fall nicht übernehmen, sie hatte nur Erfahrung mit Scheidungsprozessen. Doch der Richter hat ihr den Fall zugeteilt. Sie wusste nicht, wann sie welche Eingaben machen musste, das hat es der Staatsanwaltschaft leicht gemacht.“

Carol ist schwarz, das Opfer war weiß – und Carol ist arm, zu arm für einen guten Verteidiger. Alle fünf Frauen im Todestrakt von Pennsylvania sind arm. Fast alle zum Tode Verurteilten sind arm. Ob man für eine Tat zum Tode oder einer langen Haftstrafe verurteilt wird hängt nicht von der Schwere der Tat ab, sondern von der Hautfarbe des Opfers, der sozialen Schicht des Täters, dem Bezirk des Gerichts. Dies ist immer wieder in wissenschaftlichen Studien nachgewiesen worden. Carol weist in den Raum, wo die Frauen in den grauen Kitteln mit ihren Kindern sitzen: Dort sitzen einige, deren Taten auch nicht weniger grausam waren als die, die mir zur Last gelegt wird.“

Das Leben im Todestrakt ist härter als im Normalvollzug. Arbeit wird nicht entlohnt. Aber wer eine Unterhose mehr will, oder ein paar Binden, eine neue Zahnbürste, Gesichtscreme, Make up, Süßigkeiten oder gar einen Fernseher braucht Geld. Also Unterstützung von Freunden, Verwandten. Nicht alle Frauen finden sie. Carol arbeitet auch ohne Bezahlung, zwei Stunden täglich reinigt sie Flure und leere Zellen in anderen Trakten des Gefängnisses. „Viele der Gefangenen sind verrückt, drehen durch, schmieren ihre Zellen voll mit Kot und Blut, das ist sehr eklig. Aber 23 Stunden alleine in der Zelle sitzen, das möchte ich auch nicht.“ Carol hatte schon einmal einen Hinrichtungstermin, sie wollte nicht mehr und hatte ihre Berufung zurückgezogen. Außerdem hatte sie aufgehört zu essen, der Termin wurde verschoben und sie sollte aufgepäppelt werden, zunehmen um „hinrichtungsfähig“ zu sein. Doch inzwischen ist ihr Lebenswille zurückgekehrt, heute kämpft sie mit ihren neuen Anwälten um ihr Leben, ein neues Verfahren.

20 Jahre in der Todeszelle
Taschen ausleeren, Metalldetektor, die Abläufe sind im Mountain View Gefängnis in Gatesville inTexas ähnlich. Auch dort gibt es einen Todestrakt, in dem zur Zeit sechs Frauen untergebracht sind. Pamela Perillo saß 20 Jahre hier ein, eine Rekordzeit. Seit zwei Jahren ist sie „normale Gefangene“, ihr Todesurteil wurde außer Kraft gesetzt, ihr Strafmaß auf „einmal lebenslänglich plus 30 Jahre“ gemindert. 1995 war sie nur zwei Tage von ihrer Hinrichtung entfernt. Heute hofft die 46jährige, dass sie in einem Jahr auf Bewährung entlassen wird. Ihr Sohn, Anfang zwanzig, möchte sie bei sich aufnehmen. Einen Job hat sie auch in Aussicht: In der Gefängnisseelsorge. „Darin bin ich Expertin. Ich kann doch nicht als Verkäuferin in einem Supermarkt arbeiten, ich muss doch alles neu lernen, draußen, in der wirklichen Welt!“ 1980 war sie das letzte mal draußen, auf der Flucht mit Mike und Linda, einem Ehepaar, dem Mann drohte wegen Raub eine Verhaftung in Kalifornien. Unterwegs ging den dreien das Geld für Heroin aus. „Wir wollten die beiden jungen Männer, bei denen wir übernachtet hatten, ausrauben, um Geld für Drogen zu bekommen. So hatten wir das besprochen. Dann fing Mike an, den einen zu würgen. Wir haben ihn nicht gestoppt, sondern mitgemacht. Jeden Tag muss ich an die beiden Opfer und ihre Familien denken.“ Pamela stellte sich wenige Tage nach der Tat. Ihr Mittäter wurde 1995 hingerichtet, die dritte Mittäterin trat als Kronzeugin der Anklage auf und kam im Gegenzug mit einer Haftstrafe von fünf Jahren davon. Der Umstand, das Pamelas Anwalt ohne ihr Wissen auch die Kronzeugin vertrat und zudem eine private Beziehung mit ihr hatte, veranlasste das Oberste Gericht von Texas nach 20 Jahren, das Urteil aufheben. Ein echter Glücksfall . Denn in anderen Fällen hat dasselbe Gericht schlafende oder während der Verhandlung betrunkene Anwälte schon als verfassungsgemäß erachtet. Das Leben im „normalen“ Gefängnis, in Schlafsälen mit über 30 Mitgefangenen, fällt Pamela immer noch nicht leicht. Im Todestrakt war sie eine von acht. Sechs Stunden täglich stellte sie Baumwollpuppen her – ohne Bezahlung. Oder sie war 23 Stunden am Tag eingeschlossen in der Einzelzelle. Als 1998 ihre beste Freundin hingerichtet wurde, Karla Faye Tucker, wollte sie aufgeben. „Mein Sohn und mein Glaube an Gott haben mich gerettet“. Ihr Sohn wuchs bei einer Freundin in Texas auf die in von Pamelas Vater aus Kalifornien zu sich holte. So blieben Sohn und Mutter in Kontakt, so gut das eben geht durch das Trenngitter, zwei Stunden alle zwei Wochen. Die Mutter ist stolz auf den Sohn, „der erste in der Familie, der das College besucht.“ Der Sohn kann es kaum erwarten, die Mutter draußen zu umarmen. Seine Kindheit war mit einem Geheimnis behaftet, der Mutter in der Todeszelle. Sein Berufsziel: Kinderpsychologe. Nach zwanzig Jahren Kampf ums Überleben plant Pamela wieder eine Zukunft, mit Familie und Freunden. Und: „Ich möchte mein Leben so leben, dass deutlich wird, wie falsch die Todesstrafe ist. In jedem Fall.“

Zu Tode verurteilt
Ende 2001 waren in den USA 51 Frauen zum Tode verurteilt und 3711 Männer. Seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1977 wurden neun Frauen hingerichtet, sechs davon seit dem Jahr 2000. Die nächste Hinrichtung einer Frau soll am 19. August 2002 in Tennessee stattfinden, die 25jährige Christa Gail Pike, die 1995 eine Bekannte ermordete, vermutetes Motiv: Eifersucht. Ende 2001 waren 40 Prozent der im Todestrakt sitzenden Frauen schwarz. 13 sind verurteilt, ihren Ehemann oder Freund ermordet zu haben oder diesen Mord in Auftrag gegeben zu haben. 16 sind als Kindsmörderinnen verurteilt. Ein Drittel der zum Tode verurteilten Frauen wurden laut Recherchen der BBC während ihres Prozess mit dem „Vorwurf“ konfrontiert, sie seien „Mannweiber“ oder lesbisch.
Zwischen 1977 und April 2002 wurden 772 Menschen hingerichtet und 100 wegen erwiesener Unschuld entlassen, darunter eine Frau. Korrupte Ermittler und Staatsanwälte, gefälschtes Beweismaterial, falsche Zeugenaussagen – die lange Liste der Skandale um Todesurteile hat in den USA zumindest Zweifel am Funktionieren des Systems geweckt. Illinois und Maryland haben einen Hinrichtungsstopp verhängt um das Verfahren zu überprüfen. Der Oberste Gerichtshof der USA hat im Juni diesen Jahres verfügt, dass Todesurteile gegen Menschen mit geistiger Behinderung verfassungswidrig sind. Dennoch steht die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin fest zur Todesstrafe.
S.V

„Lasst endlich meine Tochter frei“
Dieser Ruf ist Titel eines Buches, geschrieben von der Deutschen Renate Janka. Ihre Tochter Debra Milke ist US-Amerikanerin und in Arizona zum Tode verurteilt. Sie soll einen Bekannten beauftragt haben, ihren vierjährigen Sohn umzubringen, der Mord geschah 1989. Debra Milke beteuert ihre Unschuld. Ihre Mutter kämpft für die Aufhebung des Urteils und ein neues Verfahren. Das Buch zeigt einen weiteren Fall von schlechten Ermittlungen: Angeblich hat Debra die Tat gestanden. Einem einzelnen Ermittler, ohne Zeugen, ohne Tonbandaufzeichnungen, wie sonst üblich. Vier Tage nach dem angeblichen Geständnis fertigt der Ermittler ein Gedächtnisprotokoll. Der Fall scheint gelöst, die Medien jubeln – und der Ermittler gewinnt die anstehende Wahl zum Constable. Das Buch zeigt aber auch, wie Mutter und Tochter erst langsam den Kontakt zueinander finden, nach dem Todesurteil, nach Jahren der Entfremdung.
S.V.
Renate Janka: Lasst endlich meine Tochter frei. Droemer Knaur Verlag,, München 2002, 307 S., 27,80 EUR
veröffentlicht in: FrauenRat 4/02